Der versteckte Strudel
von Arpad Dobriban

In meinem Kopf ist der Stadtplan einer mir bekannten Stadt immer mit markanten  Punkten gespickt. Stellen, an denen mich etwas erwartet,  was besonders schmeckt. Darauf freue ich mich schon lange bevor ich die Reise dorthin antrete.  Wie ein Magnet zieht es mich zu diesen verheißungsvollen Orten. Besonders wenn es dort etwas  gibt,  das man nur in dieser einen Stadt findet oder weil hier etwas  in  besonders guter Qualität gemacht wird.
Auf dem Stadtplan von Pécs sind in meinem Kopf.
 zugegebenermaßen  nicht sehr viele Punkte dieser Sorte verzeichnet. Macht ja nichts. Manchmal  reicht schon ein Ort auf den ich mich freue und den ich sofort bei meiner Ankunft aufsuche: Mecsek cukrászda – d i e Konditorei von Pécs, zumindest in früheren Zeiten, mitten auf dem Hauptplatz.
Heutzutage empfängt einen ein riesiger Tresen mit unappetitlich aufgetürmten Farb- und Aromabergen, die  bei einer Temperatur  von ca –5°C in Form gehalten werden und mit  irgendwelchen für alle Welt italienisch klingenden Namen versehen sind,  die Qualität generieren sollen. Da muss man ganz schnell dran vorbei. Weiter hinten trifft man auf die üblichen ungarischen „Zuckerbäcker-Köstlichkeiten“, die sich offensichtlich bis heute in den Ausbildungsinstituten im ganzen Land gehalten haben und der nächsten Konditorgeneration weiterhin  so beigebracht werden. Dazwischen, unter seltsam angeordneten  Alubackblechen - natürlich ohne Kühlung (was genau richtig ist!) verbergen sich die eigentlichen Magnete, die wahren Köstlichkeiten: Strudel.
Mit Mohn oder Topfen oder Sauerkirsch oder auch einfach nur mit Äpfeln gefüllt.
Angeblich nach Geheimrezepten  hergestellt, über die man nichts verraten möchte, wie man mir bedauernd mitteilt. Der Teig könnte, wie so oft in Ungarn, aus einer tatsächlich geheimnisvollen „Zentralproduktion“ stammen.
Man weiß  es nicht. Dieser Teig ist mir schon an vielen Stellen des Landes begegnet und wird von allen, die ihn verarbeiten  als wunderbar bezeichnet. Wunder stimmt, denn hier wurde aus Wasser und Mehl mit Hilfe von wiederum geheimen  Zutaten eine Art Wickelkunststoff hergestellt, der beim Ziehen nie reißt und mit dem sich tatsächlich  mehrere Meter lange Teige ziehen Lassen. Das nur neben bei. Also, man weiß zwar nicht wo der Teig herkommt, aber die Füllung und die Verarbeitung  sind bestens, und bieten alles, was man von einem Strudel erwartet. Also ein Strudel, auf den man sich wirklich freuen kann. Da muss ich spätestens am zweiten Tag  hin und den Mohnstrudel versuchen, ob er noch immer genauso gut ist, wie letztes Jahr.
Doch Hingehen ist diesmal nicht möglich. Der Hauptplatz muss schöner werden. Im Rahmen des Kulturhaupstadtjahres  wird er umgestaltet. Und zwar gründlich. So gründlich, dass nicht einmal einkleiner Fußweg während dieser Wochen zu den Geschäften auf dem Hauptplatz frei gelassen wird. Es wird eben gebaut! Da muss alles weichen,  auch mein kleine Strudelquelle. Beim  traurigen Weggehen denke ich darüber nach, wie wohl die ganzen kleinen Geschäfte überleben werden bis das Kulturhaupstadtjahr eröffnet wird. Aber das ist bestimmt alles gut geregelt. Wird schon gehen.
Dafür mache ich mir in meiner Enttäuschung nicht einmal Gedanken darüber, ob es andernorts einen Ersatz für diese Strudel geben könnte. Ein paar Tage später  komme ich zufällig mit einer Dame ins Gespräch und erzähle ihr von meinem „strudellosen Zustand“.
Und ich erfahre von ihr,  dass es in der Strasse in der Nähe des Bahnhofs eine Art Bäckerei gibt, die den eigentlich besten Strudel von Pécs haben. Eine Frau aus der Umgebung hat  sich dem Wunsch vieler Gäste  gebeugt, den guten Strudel nicht nur bei ihr zuhause essen zu dürfen. Sie hat das Wissen aus ihrer Familie eingesetzt und eine kleine Produktion aufgebaut. Das sollen die besten Strudel sein, wird mir gesagt Das sei weit hin bekannt und So gut, als hätte man sie selbst gemacht.
Also mache ich mich am nächsten Tag auf die Suche. Die Strasse zum Bahnhof ist leicht zu finden und auch nicht sehr lang. Die Beschreibung war zwar nicht sehr präzise, aber ich denke, der Laden wird schon sichtbar sein, wenn’s alle kennen und er so berühmt ist. Aber weit gefehlt. Ich fahre die Strasse zweimal  rauf und runter, aber finde keine Anzeichen von Spitzenstrudel.
Es wird schnell dunkel. Also verschiebe  ich die Mission auf den nächsten Tag.
Dann werde ich es zu Fuß versuchen.
Ich  laufe die Strecke mehrmals ab, schaue in jedes Geschäft und bin kurz vorm Aufgeben.. Doch dann sehe ich  von weitem eine dieser so genannten Erlebnisbäckereien. Ein kleiner  Raum, wie  so oft nur mit einem Verkaufsfenster zur Strasse hin, wo  mit System gebacken wird, was große Konzerne sich als landestypisches Gebäck ausgedacht haben.  Diese Unternehmen liefern tiefgekühlte Ware  und die schon vorprogrammierten  Öfen gleich mit, in denen  die Fertigprodukte aufgebacken werden. Also das genaue Gegenteil von Bäckerei. Eher eine ausgelagerte Produktionsstätte der Lebensmittelindustrie. Aber  egal. Es ist das letzte Geschäft, das infrage kommt. Ich blicke auf  die Fassade und entdecke tatsächlich  auf einem (handgemalten?) Schild den ersehnten Namen des Strudels. Nicht direkt am Eingang angebracht,  sondern weit oben,man kann es gar nicht lesen , wenn man vor der Tür steht: Bozsoki házirétes. Glücklich betrete ich den Laden. Es hat doch noch geklappt, ich bin da und der Strudel auch. Es ist nicht mehr sehr viel in der Auslage, aber ich bestelle erstmal zwei Sorten. Sehr anders, als die Supermarkt-Imitate sehen die auch nicht aus, denke ich. Aber mal sehen. Ich habe ja das Versprechen der Dame und ich habe das Schild draußen gesehen. Wird schon der richtige sein.
Während ich bezahle sagt mir die Verkäuferin als könne sie Gedanken lesen: „Aber das sind nicht die Strudel aus Palotabozsok, das sind normale!“ Ich frage Sie, ob es heute denn keine mehr gäbe oder ob ich sie übersehen hätte? „Die gibt es nur tiefgekühlt“, sagt sie. Und zählt auf, in welchen Kombinationen:„Apfel und Mohn oder Mohn und Topfen.... uws. In kleinen vorgepackten Portionen zum aufbacken.“ Selbst jetzt, wo ich den „besten Strudel“ gefunden habe, werde ich daran gehindert, ihn zu probieren.
Besser kann man gute Sachen gar nicht vor dem Zugriff eines Essers schützen. Alle Hinweise, die der Handel nutzt,  um zu verkaufen sind hier auf ein Minimum reduziert oder so unscheinbar wie es nur geht, gestaltet. Understatement  eben. So wird das Beste nicht durch schnödes Essen zerstört sondern bleibt auf jeden Fall erhalten. Das sind die wahren Geheimnisse einer Stadt. Da ich im Hotel keinen Backofen habe, verabrede  ich mit der Verkäuferin, dass sie mir morgen früh eine Portion aufbäckt. So muss ich also noch einen Tag länger auf das ersehnte  Geschmackserlebnis warten.
Und es sind wirklich gute Strudel, mit einem kleinen Durchmesser und einer guten Füllung, aber mit einem viel zu dicken Teig, wie ich mit meiner Patentante  feststelle, nachdem wir sie gemeinsam  gegessen  haben.